22.09.2023
Gesundheit

Wie kann Physiotherapie bei Migräne helfen?

Frau K. stellt sich vor

Frau K., 45 Jahre, steht voll im Berufsleben und koordiniert den getakteten Familienalltag inklusive der Hobbys ihrer beiden Kinder.

Zur Physiotherapie kommt sie wegen beständigen Nackenschmerzen, die manchmal bis in den Kopf ziehen. Verspannungen im Nackenbereich kennt sie schon seit vielen Jahren, die durch ihren Bürojob häufiger wurden. Es stört sie, dass sich der Nacken in letzter Zeit täglich meldet und sie sich beim Lesen und nach längerem Sitzen am PC verspannt fühlt.

Seit ihrem 15. Lebensjahr leidet Frau K. zudem immer wieder unter starken Migräne-Attacken. Die Medikamente von ihrer Neurologin helfen gut, solange sie diese rechtzeitig einnimmt. Meistens startet die Migräne schon mit einem steifen Gefühl im Nacken. Wenn sich die Attacke ausprägt, beschreibt sie eine starke Empfindlichkeit durch Licht und Geräusche, es wird ihr übel und manchmal muss sie sich dann auch erbrechen. Dann ist Hinlegen und Ruhe das Einzige, was ihr hilft. Nach 12-24 Stunden klingen die Symptome ab und sie fühlt sich noch eine Weile erschöpft und müde. Vor einigen Jahren hat sie herausgefunden, dass sich die Attacken weniger stark oder sogar gar nicht ausprägen, wenn sie bei den ersten Anzeichen die richtigen Medikamente nimmt. Sind es eher typische Spannungskopfschmerzen, nach einem langen Bürotag, hilft lockeres Bewegen sowohl für den Nacken als auch den Kopf.

Beim Sitzen im Auto oder in der Bahn wird sie schnell reisekrank und vermeidet es zu lesen oder das Handy länger zu benutzen. Manchmal wird ihr im Alltag kurz schwindelig bzw. „nebelig im Kopf“, was auch mal zu Konzentrationsproblemen führen kann. Alle paar Wochen fühlt sie sich beim Gehen für wenige Sekunden instabil.

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Migräne kann viele Trigger haben

Wie auch bei anderen Gesundheitsthemen spielen bei Migräne allgemeine Faktoren wie Schlaf, Ernährung, hormonelle Einflüsse (z.B. Menstruation), Stress, Bewegung und die Psyche eine große Rolle. Durch das Führen eines Kopfschmerztagebuchs kann es leichter werden, individuelle Trigger (Auslöser oder auslösende Faktoren von Krankheiten oder Syndromen) zu erkennen und die eigenen Gewohnheiten darauf anzupassen.

Ein weiterer Trigger kann ein verspannter oder schmerzhafter Nacken sein. Zwar ist dieser nicht die Ursache von Migräne, aber durch eine gezielte physiotherapeutische Befragung und Untersuchung kann herausgefunden werden, ob die Behandlung des Nackens einen Einfluss auf Kopfschmerzen oder andere Begleitsymptome haben kann.

Was Frau K. weiter berichtet

Vor ein paar Jahren ist sie gerne Joggen und Schwimmen gegangen, was Frau K. für den Nacken als wohltuend empfand. Mit Beginn der Pandemie bis heute hat sie das Schwimmen eingestellt und auch das Joggen reduziert. Alle paar Wochen gönnt sie sich stattdessen eine Massage, was kurzfristig den Bereich etwas lockert. Außerdem sind warme Bäder oder Wärmekissen für ihre Muskeln entspannend.

Sie merkt, wenn sie auf der Arbeit viel zu tun hat und lange in derselben Position sitzt, dass der Nacken schneller verspannt und sich dann auch nicht mehr so schnell lösen möchte. Auch beim Schulterblick im Auto bemerkt sie, dass sie sich etwas eingeschränkt fühlt und beim Fahren häufiger die Spiegel nutzt.

Sichtweise der Physiotherapie: Der Nacken als beitragender Faktor

Aus der Erzählung von Frau K. lassen sich Hinweise auf Faktoren erkennen, die ihrem Nacken guttun (Wärme, Bewegung, Massage) oder die Verspannung eher verschlechtern (langes Sitzen und Stress auf der Arbeit). Zudem konnte innerhalb der Untersuchung eine schmerzhaft eingeschränkte Kopfdrehung festgestellt werden. Während der manuellen physiotherapeutischen Untersuchung am oberen Teil des Nackens, gibt Frau K. an, teilweise ihre typischen Verspannungspunkte zu spüren, die auch in den Hinterkopf ziehen.

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Die obere Halswirbelsäule als Schaltstelle

Über nervliche Verbindungen können Schmerzen im Bereich der ersten drei Halswirbel (Menschen haben 7 Halswirbel, Funfact: Giraffen auch) in den Kopf ausstrahlen und neben Schmerzen auch Schwindel, Sehstörungen oder störende Ohrgeräusche (Tinnitus) auslösen. Zudem befinden sich dort die meisten Sensoren des Körpers, die Bewegungen und Positionen des Kopfes aufnehmen. Die Aufgabe der tiefliegenden Nackenmuskeln ist es dann, unter Abstimmung mit den Augen und dem Innenohr, Bewegungen zu koordinieren und das Gleichgewicht des Körpers zu erhalten.

Ein sehr komplexer Vorgang, aber die gute Nachricht ist simpel:
Sollte es aufgrund von Abstimmungsproblemen zwischen den Systemen (Nackenmuskulatur, Innenohr und Augen) zur Auslösung von Schwindel oder Balanceproblemen kommen, gibt es hilfreiche Maßnahmen, die genau dort ansetzen. Wie beim Gleichgewichtstraining auf einem Wackelbrett lässt sich das Zusammenspiel zwischen dem Nacken, dem Innenohr und den Augen trainieren. Dies kann nachweislich Verspannungen reduzieren und sich gleichzeitig positiv auf Kopfschmerz, Tinnitus oder Schwindel auswirken.

Sichtweise der Physiotherapie: Wie geht es weiter?

Nicht bei jedem Menschen mit Nackenbeschwerden und Kopfschmerzen wie Migräne ist manuelle Therapie notwendig, um sich besser zu fühlen. Innerhalb und außerhalb der therapeutischen Sitzungen sollten zudem immer Faktoren gesammelt und diskutiert werden, die einen langfristig erfolgreichen Umgang mit den Beschwerden unterstützen.

Frau K. gibt an, dass Ausdauertraining und Schwimmen ihr eigentlich schon immer Spaß gemacht und gutgetan haben. Sie wird ausprobieren, inwiefern sie selbst durch die besprochenen Veränderungen im Bewegungsverhalten, Einfluss auf die Nackenverspannungen nehmen kann. In den weiteren Sitzungen probieren wir Sitz- und Kopfpositionen aus, die sich zwar im Moment anstrengend, aber im Nachhinein entlastend für den Nacken anfühlen. Begleitend werden im Bereich der oberen Halswirbelsäule (dort wo die vielen Sensoren sitzen) manualtherapeutische Techniken durchgeführt, damit Frau K. ihre Nackenübungen Zuhause mit weniger Schmerz und mehr Bewegungsfreiheit durchführen kann.

Ausblick

Der Nacken kann einer von vielen möglichen Triggern für Kopfschmerzen, Migräne sowie Schwindel darstellen. Im Fallbeispiel von Frau K. werden gezielte Übungen zur Aktivierung der Halsmuskeln sowie manuelle Techniken im Nackenbereich in die physiotherapeutische Behandlung integriert. Nach 5 Wochen fühlt sich Frau K. immer weniger in ihrem Alltag eingeschränkt und nutzt die gemeinsam erarbeiteten Übungen, um die Verbesserungen zu erhalten. Gleichgewichtsübungen (inklusive Kopf-Augen-Koordination) ergänzen das Übungsprogramm und sollen langfristig Schwindel sowie das instabile Gefühl bei Bewegung verringern. Frau K. geht wieder einmal in der Woche Schwimmen und ist zuversichtlich, dass sie zukünftige Nackenprobleme oder Kopfschmerzen von jetzt an selbst in den Griff bekommt.

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Thilo Füller
Miriam Vogt
Physiotherapeutin
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